Wie wäre es wohl, dem Kind zu begegnen, das wir selber einmal waren? Ich stelle es mir in etwa so vor... 


 

4 Nimm mich mit

 

Kleines Mädchen, wohin gehst du

nimm mich mit auf deine Reise

zeige mir die Welt zu seh'n

auf deine Art und Weise

 

Kleines Mädchen, wohin gehst du

nimm mich mit in deine Welt

ich weiß es nicht, doch wüsst' es gern

was sie zusammenhält

 

 

 

3 Heimat(los)

Bei schönstem Sonnenschein spaziere ich durch die Erfurter Innenstadt. Vorbei an Maus und Elefant, Käptn‘ Blaubär und anderen Helden der Kindheit, die sich hier tummeln, bis ich schließlich bei der Bank ankomme, auf der das Sandmännchen sitzt. Das Sandmännchen hat seinen Arm mal wieder um ein kleines Kind gelegt. Als ich näher komme, erkenne ich es. Das bin ja ich selbst vor ungefähr zwanzig Jahren. Die Begegnungen mit dem kleinen Mädchen scheinen sich zu häufen. Ich setze mich dazu. „Hallo“, sage ich. Das kleine Mädchen blickt mich überrascht an, als hätte es hier nicht mit mir gerechnet. „Was machst du hier?“, fragt es, „Bist du im Urlaub?“ „Nein“, antworte ich, „ich wohne hier“. „Oh“ sagt es, und nach einer kurzen Pause erkundigt es sich, „nicht mehr in Gehrden?“ Dem Ort, an dem ich den größten Teil meiner Kindheit verbracht habe, habe ich kurz vor meinem 20. Geburtstag den Rücken gekehrt und das sage ich dem Mädchen auch. Es schweigt eine Weile und wirkt irgendwie traurig. Endlich fragt es mit vorsichtiger Stimme: „Ist Erfurt denn dann irgendwann meine Heimat und nicht mehr Gehrden?“ Auf diese Frage weiß ich erst mal keine Antwort.

Heimat… Was bedeutet das schon? Ist Erfurt meine Heimat, nur weil ich hier wohne? Oder ist Gehrden meine Heimat, weil ich dort geboren bin und den größten Teil meines bisherigen Lebens verbracht habe? Wie lautet die Definition? Frage ich Google, was Heimat bedeutet, so erhalte ich als erstes folgendes Ergebnis: „das Land oder die Gegend, wo man geboren und aufgewachsen ist oder wo man sich zu Hause fühlt, weil man schon lange dort wohnt“. Diese Definition scheint aus dem „PONS Kompaktwörterbuch: Deutsch als Fremdsprache“ zu stammen, bringt mich aber nicht wirklich weiter. Mich irritiert der zweite Teil der Definition, der Präsens des „weil man schon lange dort wohnt“. Was, wenn ich an einem Ort lange gewohnt habe, aber inzwischen weggezogen bin? Kann ich, abgesehen vom Ort meiner Kindheit nur dort zu Hause sein, wo ich aktuell, und das schon seit einem gewissen Zeitraum, wohne? Was ist, wenn ich meinen Wohnort schon öfter gewechselt habe, lange Zeit irgendwo gelebt und mich wohlgefühlt habe? Ist es abwegig, auch in diesen Orten meine Heimat zu sehen? Und wie lange muss ich eigentlich mehr oder weniger durchgängig an einem Ort verbracht habe, um sagen zu können, dass ich dort gelebt habe? Grenze ich diese Dauer relativ willkürlich auf zwei Monate ein, so fallen mir sieben Orte ein, an denen ich gelebt habe. Sieben Orte in zwei Ländern. Hierunter zähle ich Gehrden, Vaihingen, Tomares, Kassel, Granada, Wrixum und Erfurt. Und demnächst kommt wohl auch noch Fulda hinzu. Sind diese Orte alle meine Heimat? Oder kann man nur eine Heimat haben? Immerhin sagt der Duden, dass es einen Plural von Heimat gibt: die Heimaten. Wenn ich also davon ausgehe, dass der Begriff Heimat nicht nur auf einen einzigen Ort beschränkt ist, so führt meine nächste Überlegung zu der Frage, wo ich wirklich das Gefühl habe, nach Hause zu kommen, wenn ich entsprechenden Ort besuche und wieso?

Über Gehrden müssen wir eigentlich gar nicht reden. Wenn ich hierher komme, so komme ich in eine Kleinstadt, die von sich selbst behauptet, lebendig und „dufte“ zu sein. Das kann ich zwar nicht unbedingt bestätigen, aber Fakt ist, ich bin hier geboren, aufgewachsen, habe u.a. Kindergarten, Schule, Sportverein und Musikschule besucht. Ich habe Freundschaften fürs Leben geschlossen und meine Familie ist zumindest zum Teil immer noch hier. Auch mein Kinderzimmer existiert noch. Ich werde wohl mein Leben lang eine Gehrdenerin bleiben. Zweifelsohne, wenn ich hierher komme, kehre ich nach Hause zurück.

An meine Zeit in Vaihingen kann ich mich hingegen nicht im Geringsten erinnern. Der Anblick des rosa Mehrfamilienhauses, in dem ich einst gelebt haben soll, löst nichts in mir aus. Keine schönen Erinnerungen, keine schlechten, überhaupt nichts. Dieser Ort fällt auf meiner Heimatsuche schon mal raus. Dort fühle ich mich definitiv nicht zu Hause. Vaihingen ist für mich wie jeder andere Ort auch.

Wenn ich jedoch nach längerer Abwesenheit nach Kassel zurückkehre, so fühlt es sich tatsächlich wie eine Heimkehr an. Hier habe ich sechs Jahre lang (mit kurzen Unterbrechungen) gelebt. Diese Stadt, und insbesondere die Weserspitze, an der ich gewohnt habe, sind mir sehr vertraut. Zwar bin ich mir bewusst, dass der Mensch dazu neigt, die Vergangenheit zu romantisieren und ich weiß doch ganz genau, dass das mit Kassel nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick war, aber meine Güte Kassel, was bist du doch schön! In meinen Augen schön. Mir scheint, dass ich ein Stück meines Herzens unwiederbringlich an diese Stadt verloren habe. Mich überrollt eine Welle des Glücks, wenn ich dort bin und es gibt keinen Ort der Welt, an dem ich meine sechs Studienjahre lieber verbracht hätte. Ich kenne die Menschen, die dort den Alltag prägen. Ich kenne den Mann in Trainingsanzug, der jeden Morgen wie aus dem Nichts auftaucht und sich zwischen Kiosk und meiner einstigen Haustür hin und her bewegt. Ich kenne den komplett in Jeans gekleideten notorischen Schwarzfahrer, den Huskymann und den Kerl, der eine Angewohnheit hat, mitten auf der Bundesstraße einfach stehen zu bleiben. Auch der Anblick des irgendwie düsteren Menschen mit seiner Alditüte in der linken Hand, seiner tief ins Gesicht hängenden Kapuze und dem schaukelnden Gang, ist mir vertraut. Er ist mir entweder auf der Straße begegnet oder auch im eigenen Treppenhaus. Auch den italienischen Pfandflaschensammler gibt es noch. Und vor allem werde ich niemals diese eine, meine, Wohnung vergessen und wahrscheinlich mein Leben lang nostalgisch an die WG-Zeit in ihr zurückdenken. Hier haben sich viele unvergessliche Momente meines Lebens abgespielt, teils vollkommen absurd, manchmal fröhlich, manchmal traurig. Auf diese Wohnung als Zufluchtsort war stets Verlass, ebenso wie darauf, dass jegliche Mängel an ihr wie regendurchlässige Dächer vom Vermieter entweder gar nicht oder mit großer Zeitverzögerung nur von einem seiner Landsmänner behoben wurden. Ja, sein Herkunftsland lag dem Vermieter stets sehr am Herzen und er legte Wert darauf, dass auch all die Handwerker, die höchstwahrscheinlich schwarzarbeiteten, aus ebendiesem Land stammten. Also ja, in Kassel, insbesondere an der Weserspitze fühle ich mich bis heute durchaus zu Hause und bezeichne diesen Ort als Heimat.

Dann ist da Granada. Sechs Monate waren es, die ich in dieser Stadt verbracht habe. Sechs insgesamt wundervolle Monate. Und wenn ich heute in diese südspanische Stadt zurückkehre, so möchte ich sie am liebsten umarmen. Wenn es nur möglich wäre, eine Stadt zu umarmen. So viele markante Persönlichkeiten wie an Kassels Weserspitze sind mir hier nicht begegnet. Und auch habe ich hier nicht so viele prägende Hochs und Tiefs erlebt wie in den sechs Jahren in der nordhessischen Stadt, aber dennoch, wenn ich  nach Granada komme, so habe ich auch hier das Gefühl, nach Hause zu kehren. Aber es scheinen nicht die gleichen Gründe zu sein, die mich zu dieser Einschätzung kommen lassen wie in Kassel. Und das Heimatgefühl gipfelt hier nicht beim Durchlaufen meines Viertels, es ist Granada als Ganzes, wo ich mich zu Hause fühle. Immerhin kenne ich  die Melodie der Stimme des Gasmanns, der durch die Straßen der Stadt läuft und den Anwohnern seine Butan-Kartuschen verkauft. Ich kenne die Geräusche und Gerüche in den Bars, ich weiß, in welchen Straßen die Chance groß ist, von Fundraisern aufgelauert zu werden und welche alternativen Wege man einschlagen kann, um diese zu umgehen. Ebenso kenne ich die Siesta-Zeiten so manchen Supermarktes. Und ich fühle vor allem eine tiefe Verbundenheit zu den großartigen Menschen, die ich in Granada kennengelernt habe. Einige von ihnen sind noch in der Stadt oder zumindest in der Nähe. Andere sind inzwischen weit weit weg, so wie ich selbst. Aber das ist letztendlich überall, wo ich gewohnt habe, der Fall, dass viele der Menschen, die meine Zeit dort so sehr geprägt haben, nicht mehr vor Ort sind. Fakt ist dennoch, in Granada fühle ich mich vertraut und geborgen. Ich fühle mich zu Hause.

Wrixum auf Föhr. Mit zwei Monaten, die ich hier auf einer Nordseeinsel verbracht habe, die kürzeste Etappe. Und auch wenn ich bisher noch nicht wieder auf diese Insel zurückgekehrt bin, so entscheide ich gleich aus dem Bauch heraus, dass ich hier nicht zu Hause bin. Auch wenn ich viele Wege auf dieser Insel mit dem Rad abgefahren bin und ich mich sicherlich auch bis zu einem gewissen Grad auskenne, mehr als die meisten Touristen der Insel, so fehlt doch die emotionale Bindung zu diesem Ort. Ich habe hier weder besonders gute noch besonders schlechte Momente erlebt. Auch habe ich nicht das Gefühl, dass ich durch diese zwei Inselmonate eine besondere Prägung erhalten hätte. Zwar weiß ich, dass die gute Helga ihren Kaffee am liebsten mit nur einer Bohne trinkt und der nette junge Herr stets einen doppelten Espresso wünscht, aber das reicht nicht aus, um mir ein Gefühl von Heimat zu geben. Die zwei Monate auf der Insel bleiben mir im Gedächtnis als eine Art Auszeit zu einem Zeitpunkt, der das Ende eines Lebensabschnitts und den Beginn eines neuen bedeutet. Eine Zeit des Zuruhekommens und des Versuchs, mir den Kopf durch den Nordseewind freipusten zu lassen. Es war eine schöne Zeit, gewiss. Aber ich habe hier weder Geborgenheit noch ein Zuhause gefunden. Vielleicht sind zwei Monate dafür auch einfach nicht genug.

Schwer tue ich mich mit Tomares. Beinahe zehn Monate habe ich hier verbracht. Es war eine aufregende und sehr intensive Zeit. Ich kenne die Cafés, die Bibliothek, die Copyhops. Vor allem bin ich hier zur Schule gegangen, erinnere mich an die heruntergekommenen WCs und an so manchen denkwürdigen Lehrer. Ich bin nach Tomares zurückgekehrt. Schon viermal. Und ganz zweifelsohne ist dieser Ort voller Erinnerungen und mehr als nur ein wenig vertraut. Geprägt hat mich Tomares sicherlich auch. Aber eines, was ich an den anderen Orten, die ich mein Zuhause nenne, gefunden habe, fehlt hier. Es ist das Gefühl von Geborgenheit. Auch wenn ich mich gerne an die Zeit erinnere und mit Freude zurückkehre und durch die bekannten Straßen laufend in die mir wohlbekannte Welt eintauche, so kann mir dieser Ort dennoch keine Geborgenheit bieten, keine Zuflucht. Aufgrund dieses Mangels würde ich Tomares nur eingeklammert als zu Hause bezeichnen wollen.

Und nun lebe ich also in Erfurt. Seit über einem halben Jahr schon. Länger als ich in Granada gelebt habe. Fühle ich mich zu Hause? Ich weiß es nicht genau. Personen, die ich mit meinem Stadtteil in Verbindung bringe, gibt es bereits, allen voran diese eine Mutter mit ihren zwei Kindern E. und L.. Eine Zeit lang fuhren sie regelmäßig mit mir Straßenbahn. Seitdem ich die Straßenbahn gegen mein Fahrrad eingetauscht habe, sehe ich sie nicht mehr. Aber ich höre sie regelmäßig, ungefähr jeden dritten Morgen. Durch das geöffnete Schlafzimmerfenster komme ich in den Genuss des Gezeters und Geheules und kann zweifelsfrei zuordnen, wer da unterwegs ist. Heute z.B. stritten sich Mutter und Kinder um den Regenschirm, der offenbar nicht allen drei Personen ausreichend Schutz bieten konnte. Und dann ist da noch dieser Mann in seiner neongelben Jacke mit unordentlich herunterhängender Kapuze. Unter dieser Jacke trägt er Anzug mit Krawatte. Er wohnt irgendwo drei Haltestellen weiter und ich erkenne ihn ohne Probleme wieder. Ich „sammle“ Erfurter Persönlichkeiten, so wie ich es in Kassel getan habe. Es werden sicherlich noch mehrere hinzukommen. Irgendwie bin ich mir aber nicht sicher, ob ich Erfurt schon mein Zu Hause nennen würde. Vielleicht fehlt mir der Abstand. Vielleicht muss ich erst erfahren, wie es ist, diese Stadt zu verlassen und zurückzukehren. Vielleicht ist es mir erst dann möglich, von zu Hause, von einer Heimat zu sprechen. Auf jeden Fall möchte ich, dass mir Erfurt ein Heimatgefühl gibt, dass mir diese Stadt nicht nur vertraut ist, sondern ich mich hier auch geborgen fühle.

Was ist also meine Heimat? Diese Frage ist immer noch nicht vollends beantwortet, ebenso wenig, was genau eigentlich das Heimatgefühl ausmacht. Ich fühle mich zerrissen, aufgrund der vielen Orte, die alle darauf zu pochen scheinen, meine Heimat darzustellen. Ich wäre gerne an ihnen allen. Gleichzeitig. Mit all den Menschen, die sie prägen/geprägt haben. Doch das funktioniert nicht. Denke ich an Heimat, so denke ich nicht nur an einen bestimmten Ort. Bin ich heimatlos? Sicherlich nicht. Auch wenn mir einerseits dieser eine Ort fehlt, der unangefochten meine Heimat darstellt und ich auf der Suche nach ihm bin, so bin ich doch andererseits froh, mich an so vielen Orten zu Hause zu fühlen. Jeder dieser Orte stellt nur ein einziges Puzzleteil meiner Heimat dar, dennoch trage ich das Gesamtpuzzle stets in mir drin. In meinem Herzen haben alle meine Heimatorte Platz nebeneinander und ergeben so ein großes Ganzes, einen großen Zufluchtsort.

 

Ich werde von der Seite angestupst. Ach ja, das kleine Mädchen. Ich hatte es beinahe vergessen. Es schaut mich ungeduldig an und fragt mich in leicht genervtem Tonfall: „Was ist denn nun?“ Worum ging es noch mal? Richtig, das kleine Mädchen wollte wissen, ob Erfurt Gehrden als Heimat ablösen würde. „Ich hoffe, dass Erfurt eines Tages deine Heimat wird“, sage ich, „aber ich verspreche dir, auch Gehrden wird es immer bleiben.“  

 

 

 

2 Seifenblasenwelt

Das kleine Mädchen steht vor mir, pustet durch einen Ring und lässt riesengroße Seifenblasen entstehen, die mit dem Wind davongetragen werden. Einige platzen schnell, doch das ist nicht weiter schlimm, da sogleich neue ihren Platz einnehmen. Wie soll ich dem Mädchen erklären, dass in ihrem Leben eines Tages zerplatzte Seifenblasen nicht mehr so einfach durch neue ersetzt werden können? Dass das Platzen etwas Endgültiges haben kann? Eigentlich gibt es keinen Grund, dass ich es ihr überhaupt erzähle. Sie wird schon noch früh genug mit den Enttäuschungen des Lebens konfrontiert werden. Aber aus irgendeinem Grund tu ich es doch. „Wieso platzen die Seifenblasen dann einfach? Und warum kann ich dann nicht einfach neue machen?", möchte es verwundert wissen. Ich zucke mit den Schultern. „Es passiert einfach. Du kannst nicht alles beeinflussen. Aber das ist auch nicht schlimm, weißt du. Auch wenn es keine Seifenblasen mehr gibt, so gibt es zahlreiche neue interessante Dinge, auf die du dich freuen kannst. Du wirst sehen, wie groß und rätselhaft diese Welt ist und du wirst versuchen, die vielen Rätsel, oder zumindest einige von ihnen, zu lösen. Du wirst viele spannende Menschen kennen lernen und versuchen, hinter ihre Fassade zu blicken, um zu schauen, was sich dahinter versteckt." Das kleine Mädchen versteht nicht recht, von was für einer Fassade ich spreche. Aber das kümmert sie auch nicht weiter. Sie liebt es, Rätsel zu lösen, auch das mit der Fassade wird sie eines Tages aufklären. Der Gedanke an die vielen spannenden Menschen gefällt ihr. Aber was hat das alles mit den Seifenblasen zu tun? Warum müssen Seifenblasen für immer platzen, damit sie Rätsel lösen und spannende Menschen kennen lernen kann? Das versteht sie nicht und das möchte sie auch nicht. Eine Welt ohne Seifenblasen? Unvorstellbar. „Das will ich nicht. Ich liebe Seifenblasen“. Sie schaut mich eine Weile nachdenklich von unten an und reicht mir schließlich ihr Seifenwasser und den Seifenblasenring. „Ich glaube dir nicht, dass du das nicht kannst“, sagt sie. Mir bleibt nichts anderes übrig als selbst hindurch zu pusten. Erst tropft das Seifenwasser zu Boden und beschmiert zudem meine Hände, die nun ganz glitschig sind. Aber dann, dann formen sich kleine Bläschen, nicht so vollkommen wie die des kleinen Mädchens, nicht ganz so groß und schimmernd, aber sie sind doch eindeutig sichtbar und bahnen sich ihren Weg in die weite Ferne. „Siehst du“, sagt das kleine Mädchen und lacht zufrieden, „ich habe es doch gewusst. Auch Erwachsene können noch Seifenblasen machen. Es ist gar nicht so schwer.“ Es blickt voller Zuversicht in die Zukunft und hat keine Angst. Es wird Enttäuschungen erleben müssen, aber nicht zulassen, dass diese ein Seifenblasensterben verursachen. Es hat seinen Glauben an die Ewigkeit der Seifenblasen. Ich schaue meinen eigenen kleinen nach und fange an, auch daran zu glauben. 

 

 

 

1 Südwärts

Irgendwie bin ich in die Situation geraten, in der ich mich befinde. Das ist keine Wertung, es ist eine Feststellung. Ich habe Entscheidungen getroffen, bestimmte Wege eingeschlagen, die letztendlich im Hier und Jetzt münden. Insgesamt erscheint mir dies alles sehr natürlich, eine logische Konsequenz vergangener Ereignisse. Man kann schließlich nicht alle Wege gleichzeitig gehen. Sobald ich mich entscheide, die Straße Richtung Norden zu nehmen, lasse ich den Süden hinter mir. Vielleicht wende ich mich noch einmal ein wenig Richtung Osten oder nach Westen. Das spielt keine Rolle, denn ich wandere immer noch nordwärts und vergesse schon bald, dass es den Süden überhaupt gibt und dass ich einst genauso gut in die dem Norden entgegengesetzte Richtung hätte laufen können. Das Leben hat mich hierher geführt, so ist es nun mal. Ich muss mich dem Schicksal fügen, auch wenn mich nun das Gefühl beschleicht, dass ich mich im Süden vielleicht doch wohler fühlen würde. Ach, hätte ich nur damals diese eine Sache anders gemacht, dann könnte ich jetzt…Damals? Wieso eigentlich damals? Wir leben in der Gegenwart und sollten dementsprechend handeln und uns nicht unserem Schicksal mit dem Verweis auf gestern hingeben. Es ist zu bequem, Entscheidungen aus der Vergangenheit für das verantwortlich zu machen, was wir heute sind, was uns bedrückt, was uns in unserem jetzigen Leben missfällt.

Möglicherweise ist der Weg, der in den Süden führt, inzwischen holpriger geworden und diese eine Brücke auf dem Weg, die über den Fluss führt und die ich eigentlich nehmen müsste, ist inzwischen eingestürzt. Aber habe ich nicht gelernt zu schwimmen? Anstatt zu laufen, schwimme ich dann eben, auch wenn es mir schwerer fällt und ich länger brauche. Aber wer weiß, vielleicht entdecke ich ganz neue Kräfte in mir?!? Vielleicht will ich fortan nie wieder laufen, sondern nur noch schwimmen. Vielleicht bin ich zum Schwimmen geboren, weiß es nur noch nicht. Wenn ich es nicht wage, einen Umweg auf mich zu nehmen, um an mein Ziel zu kommen, wie soll ich es dann je erfahren? Man kann nicht alle Wege gleichzeitig einschlagen, aber man kann sie nach und nach ablaufen. Andererseits, woher soll ich wissen, dass ich jetzt doch in den Süden möchte und den Norden hinter mir lassen sollte?

Wer weiß schon genau, was er eigentlich möchte? Ich definitiv nicht. Einerseits scheint es so viele Möglichkeiten zu geben, andererseits wirken sie alle versperrt. Ob durch eingestürzte Brücken oder andere Hindernisse. Auch wenn ich nicht weiß, wozu ich bestimmt bin, was ich mir für meine Zukunft erhoffe, so habe ich nun doch eine Person gefunden, die mir dahingehend vielleicht zumindest Denkanstöße geben kann. Es ist das kleine Mädchen. Das kleine Mädchen, das ich einst selber war. Ich frage mich, wie es wäre, dieses kleine Mädchen von damals heute zu treffen. Würde es mich mögen? Würde sie gut finden, was ich in der Vergangenheit getan habe und wie ich es getan habe? Könnte sie vielleicht sogar stolz auf mich sein? Und worüber würde sie wohl den Kopf schütteln, was könnte sie gar nicht verstehen? Ich glaube, die letzte Frage kann ich beantworten. Sie würde sich wahrscheinlich fragen, was aus ihren Träumen geworden ist. Wann und wofür ich sie aufgegeben oder schlichtweg vergessen habe. Vielleicht würde sie anfangen zu weinen und unter Tränen stammeln: „Aber ich habe mir doch so sehr gewünscht…Wie konntest du das nur vergessen?“

Als kleines Mädchen hatte ich eine rege Fantasie. Und ich hatte leise Vorstellungen von der Zukunft, von dem, was ich einmal machen wollte. Ich hielt eine Tätigkeit als Kassiererin einst für eine sehr gute Idee. Ich dachte, es wäre leicht verdientes Geld. Irgendwann verstand ich, dass man als Kassiererin nicht all das Geld behalten darf, was einem die Kunden für ihre Einkäufe in die Hand drücken und mein Interesse an diesem Beruf ging verloren. Aber ein anderer meiner Pläne bestand darin, Schriftstellerin zu werden. Und das sicherlich nicht, weil ich glaubte, dass man damit leicht und schnell Geld verdienen könnte, sondern viel mehr, weil ich es liebte, zu erzählen. Ich erinnere mich, wie ich im Beisein meines Opas und meiner Schwester – beide aufmerksame Zuhörer – die tollsten Geschichten mit bunten Figuren und Formen aus dem Ärmel schüttelte und mein Opa nicht glauben konnte, dass ich mir diese selbst ausgedacht hatte. Inwiefern er dies tatsächlich aufrichtig so meinte, vermag ich leider nicht zu beurteilen, aber dennoch, ich erinnere mich daran, wie glücklich diese Momente waren.

 

Ich möchte nicht, dass das kleine Mädchen traurig ist, weil ich es mit seinen Träumen und Wünschen vergessen habe. Ich möchte nicht, dass es enttäuscht ist von der erwachsen gewordenen Person. Ich möchte, dass es lacht. Ich möchte, dass es stolz auf mich ist und dass es glücklich ist. Ich möchte, dass ich glücklich bin. Und deshalb habe ich beschlossen zu schreiben. Ich weiß zwar ehrlich gesagt nicht worüber, ich weiß nicht für wen, ich weiß nicht einmal, ob ich es überhaupt kann. Aber was spielt das für eine Rolle? Ich glaube nicht, dass ich Schriftstellerin werden muss, damit das kleine Mädchen zufrieden ist. Die Hauptsache ist doch, dass ich dem Traum des Schreibens nachgehe, so gut wie ich es eben kann. Wenn das kleine Mädchen in den Süden ziehen möchte, werde ich es an die Hand nehmen und es ein Stück begleiten. Vielleicht bis zur eingestürzten Brücke. Aber vielleicht schwimme ich auch weiter.